08.08.2023

„Den Stier bei den Hörnern gepackt“

Interview mit dem Architekten Michael Wimmer über den städtebaulichen Siegerentwurf für den 5. Bauabschnitt der Messestadt Riem, den Charakter des neuen Stadtviertels, und warum Wege oft unterschätzt werden

Herr Wimmer, was war für Sie die größte Herausforderung bei dieser Aufgabe?

Es gab nicht nur eine, sondern mindestens zwei, eher drei große Herausforderungen. Zum einen: wie integrieren wir die vierspurige Entlastungsstraße in das neue Quartier, die die Stadt seit langem als Entlastungsstraße für Kirchtrudering wünscht. Zweitens: wie kombinieren wir eine Einfamilienhaussiedlung mit Geschosswohnungsbau. Und drittens: wie verzahnen wir das neue Viertel sowie die bestehende Siedlung mit dem Riemer Landschaftspark, so dass Kirchtrudering nicht in die zweite Reihe rutscht.

Die Lösung dafür war dann das „Fenster zum Park“, wie Sie es genannt haben?

Richtig, die breite Öffnung zum Grün, die sich bis zu der Ecke Truchthari-Anger / Straßl ins Holz zieht, stellt genau diese Öffnung und den Bezug zum Landschaftspark her. Das wurde dadurch möglich, dass wir die Siedlungsfläche aufgeteilt und nördlich wie südlich der Öffnung in zwei eigenständige Quartierskörper weiterentwickelt haben. Hier standen wir nun vor der nächsten Herausforderung: wie bauen wir hier gute, funktionierende, attraktive Quartiere, wenn eine vierspurige Straße durch sie hindurchführen soll. Sie zu integrieren war nicht einfach, aber ich denke, dass uns das mit der angerartigen Form im Süden und dem großen mittig gelegenen Platz im Norden gelungen ist.

Wozu braucht man hier eine vierspurige Straße?

Gewünscht ist eine eigenständige Busspur, wobei die ja am Rande des neuen Viertels wieder endet. Ich will dem Verkehrskonzept nicht vorgreifen, meine aber, dass man auf die Vierspurigkeit verzichten könnte. Für das Quartier wäre es ein großer Gewinn, wenn die Straße kleiner ausfiele.

Aber dass die Straße durch die neuen Viertel hindurchführen sollte, war für Sie gesetzt?

Gesetzt nicht, wir haben auch darüber lange nachgedacht. Im Grunde gab es hier zwei Möglichkeiten: entweder wir führen sie durch das neue Quartier hindurch – oder am Rande vorbei. Zweiteres wäre uns aber etwas wie Wegschummeln vorgekommen, das ist nicht so unsere Sache. Wenn die Straße ganz klar als Aufgabe genannt ist, nehmen wir diese Herausforderung an und wollen den Stier bei den Hörnern packen. Das hieß dann, dass wir eine Lösung im Kontext der neuen Bebauung finden mussten. Es ist schon klar, dass das dann im neuen Viertel keine klassische Wohnstraße wird, aber ich denke, dass es uns gelungen ist, mit den Formen der Bebauung einen ganz guten Schallschutz für das eigene Quartier und die bestehende Nachbarschaft zu ermöglichen.

Wie kann ein Platz, durch den eine vierspurige Straße führt, ein attraktiver Platz werden?

Da gibt es viele Beispiele, auch in München: denken Sie an den Promenadenplatz, oder den Maximiliansplatz. Wenn man die beiden Spuren durch eine hochwertige, parkähnliche Grünanlage trennt, ist es sehr gut möglich, städtisch belebte, attraktive Situationen zu schaffen.

Wie kann man sich das Entstehen eines solchen Entwurfs vorstellen? Gibt es da den Heureka-Moment unter der Dusche?

In diesem Fall eigentlich nicht, wir waren ja schon an den Vorstudien beteiligt und wussten im Grundsatz, was wir wollen und was nicht. Die Straße stellte uns vor die Frage, wie das gehen soll. Wenn wir sie durch das Quartier führen wollten, und gleichzeitig das Fenster zum Park hin öffnen, kamen wir relativ schnell auf die Idee, die beiden Quartiere zu trennen. Und wenn wir sie trennen, dann können wir sich auch unterschiedliche räumliche Qualitäten entstehen. Das entwickelte sich Zug um Zug.

Und so sind auch die beiden unterschiedlichen Plätze entstanden?

Ja, im Süden in länglicher Form als Anger, im Norden der fast quadratische zentrale Platz. Beide öffnen sich entlang der Straße. Es hat uns gefallen, die Straße zweimal zu Plätzen mit Aufenthaltsqualität zu öffnen, denn so hat Stadt immer schon funktioniert: Plätze sind an frequentierten Wegen entstanden. Heute werden Wege in Entwürfen häufig unterschätzt, oder gar versteckt.

Was war die wesentliche Änderung an Ihrem Entwurf bei der Überarbeitung nach den Anmerkungen des Preisgerichts?

Dass die Achse des Landschaftsparks nicht nur irgendeinen, sondern einen sinnvollen Endpunkt gefunden hat. Für diese Anmerkung sind wir der Jury sehr dankbar. Das hat den Entwurf noch einmal verbessert.

Welchen Charakter wird das entstehende Stadtviertel haben, auch im Vergleich zur Messestadt?

Die Messestadt ist mit ihren oft nur drei- bis vier-geschossigen Bauten viel weniger dicht und viel mehr eine Wohnsiedlung, was ja inzwischen auch kritisiert wird. Das neue Viertel wird ein viel belebteres, urbanes Quartier, mit einer Mischung der Nutzungen und einem ganz anderen Charakter als die Messestadt. Wir sehen da alles, weshalb wir gern in Städten leben. Die vorgesehene bauliche Dichte ist die Grundvoraussetzung  für diese belebte urbane Mischung der Nutzungen.

Woran wird sich womöglich auch Kritik fest machen?

Die Punkte sind ja offensichtlich: die Straße, die Dichte und die Höhe. Aber wenn die Stadt die Straße so haben will, und – wie vorgegeben – bis zu 2.500 Wohnungen in diesem Bauabschnitt, dann denke, ich, dass es so, wie wir das gelöst haben, für die Anwohner am besten ist. Natürlich beglückt man Nachbarn, die bisher auf Felder schauen, mit so einem Projekt zunächst nicht. Aber andererseits erhalten sie auch etwas: neue Läden, Gastronomie, ÖPNV-Anbindung, eine Schule, Kindertagesstätte und nicht zuletzt einen attraktiven Zugang zum Landschaftspark. Ich bin mir sicher: wenn auf der Fläche des neuen Quartiers nur Reihenhäuser entstünden, würde das auch niemand gut finden.

Wie geht es nun weiter?

Wir werden nun unsere Planungen fortsetzen und zu einem ausgereiften städtebaulichen Entwurf bringen. Der wird dann die Basis für verschiedene Gutachten sein, zum Verkehr etwa oder zum Stadtklima. Damit ein Bebauungsplan mit Grünordnung in Kraft treten kann, ist – wie bei Bebauungsplanverfahren dieser Größe üblich – ein Satzungsbeschluss des Stadtrates nötig. Auf Basis dieses Beschlusses können dann die Bauanträge gestellt werden. Ich freue mich sehr auf dieses Projekt!

Interview: Gerd Henghuber